„Keine Option ausschlagen“

SPIEGEL: Herr Steinbrück, wer hat die Wahl denn nun gewonnen?

Steinbrück: Es gibt zwei Betrachtungen. Die eine orientiert sich am Wahlergebnis von 2002. Danach hat die SPD mehrere Prozentpunkte verloren. Die zweite Betrachtung ist die: Wie standen wir vor zwei Monaten da, während CDU und CSU schon ihre Selbstausrufung betrieben haben? Aus dieser Perspektive hat die Union eine irrsinnige Klatsche gekriegt. Mit einem fulminanten Wahlkampf hat Gerhard Schröder die SPD von 26 auf 34 Prozent hochgeschraubt.

SPIEGEL: Alles richtig, aber die Union stellt derzeit die stärkste Fraktion.

Steinbrück: Knapp. Aber alle demoskopischen Institute haben geirrt. Die meisten Kommentatoren der Republik haben geirrt. Und heute haben wir ein Überraschungsergebnis, bei dem sich alle an den Kopf fassen. Das liegt an dem guten Abschneiden der SPD und dem unerwartet schlechten Resultat der CDU/ CSU.

SPIEGEL: Realistischerweise ist nur noch eine Ampel oder eine Große Koalition möglich.

Steinbrück: Wir sollten keine Option voreilig ausschlagen. Nach diesem Wahlabend ist die Politik aufgerufen, eine stabile Mehrheit im Deutschen Bundestag zu bilden. Und da kommt es jetzt nicht auf irgendwelche Verlautbarungen an, sondern darauf, eine maximale Schnittmenge von Gemeinsamkeiten zu erarbeiten, und dazu werden die Parteien in den nächsten Tagen Gespräche führen.

SPIEGEL: Eine Minderheitsregierung gehört nicht zum Arsenal Ihrer denkbaren Möglichkeiten?

Steinbrück: Spontan sage ich, eine Minderheitsregierung kommt nicht in Frage, weil sie zu instabil ist, um die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen.

SPIEGEL: Will Schröder eine Große Koalition unter seiner Führung?

Steinbrück: Das wird sich herausstellen. Der Hinweis von CDU/CSU, dass immer der stärkere Partner den Regierungschef stellen muss, steht nicht in Stein gemeißelt; und es gibt Beispiele in Deutschland, wo das keineswegs der Fall war.

SPIEGEL: Wo denn?

Steinbrück: Ole von Beust wurde in Hamburg mit 26 Prozent Regierungschef, während die SPD knapp 37 Prozent erreichte.

SPIEGEL: Ein schräger Vergleich, denn auch in Hamburg stellte der stärkste der Koalitionspartner den Regierungschef.

"Die Herausforderung für die beiden großen Parteien heißt, die Bindungskräfte wieder zu stärken."

Steinbrück: Ich will keine Möglichkeit ausschließen. Das wäre nicht klug.

SPIEGEL: Stehen Sie für ein Amt in einer Großen Koalition unter Unionsführung zur Verfügung?

Steinbrück: Diese Frage beantworte ich nicht, solange unklar ist, wer die Regierungsbildung übernimmt.

SPIEGEL: Sind Neuwahlen eine Option?

Steinbrück: Das hielte ich für falsch. Die Bürgerinnen und Bürger würden es nicht verstehen, wenn immer wieder neu gewählt würde nach dem Motto: Wir wählen uns das Ergebnis herbei, bis es passt. Die Verantwortung liegt bei den Politikern in allen Parteien – mit Ausnahme der Linkspartei. Könnte sogar sein, dass auch das Dresdner Wahlergebnis in zwei Wochen dabei noch eine Rolle spielt. Das wird man dann in einer parlamentarischen Demokratie aushalten müssen.

SPIEGEL: Wir haben nun nach einem zugespitzten Wahlkampf eine linke Mehrheit in Deutschland. Was heißt das für die Reformen der nächsten Jahre?

Steinbrück: Für die Reformpolitik der SPD heißt das, den Kurs von Kanzler Schröder fortzusetzen. Und das war eine Reformpolitik, für die wir ja bei diversen Landtagswahlen abgestraft worden sind. Ich weiß, wovon ich rede. Schließlich bin auch ich als NRW-Ministerpräsident dafür abgestraft worden.

SPIEGEL: Braucht die Reformpolitik, die ja auch Ihrer Meinung nach notwendig war und weitergehen muss, eine neue Balance?

Steinbrück: Ja. Sie wird aber von Schröder auch personifiziert. Diese Balance lautet: notwendige Modernisierungen vorzunehmen, aber auf der anderen Seite die Frage nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft nicht zur Disposition zu stellen. Das ist der Fehler der Schwarz-Gelben gewesen; deswegen haben sie dieses desaströse Ergebnis erzielt. Denen traute man diese Balance erkennbar nicht zu – im Osten genauso wenig wie im Westen.

SPIEGEL: Ist es bitter für Sie, dass die SPD in Nordrhein-Westfalen vier Monate nach der verlorenen Landtagswahl wieder einen deutlichen Vorsprung vor der CDU hat?

Steinbrück: Bitter nicht, aber es kam nicht ganz unerwartet für mich, weil viele Menschen über das NRW-Ergebnis vom 22. Mai richtig erschrocken waren. Ich habe schon im Wahlkampf gemerkt, dass das Pendel zurückschlägt.

SPIEGEL: Beide Volksparteien haben verloren, die drei kleinen Parteien im Bundestag liegen deutlich über fünf Prozent. Welche Konsequenzen hat das für das Parteiensystem in Deutschland?

Steinbrück: Es hat sich unabweisbar weiter ausdifferenziert. Was ja, verglichen mit anderen europäischen Ländern, nichts Ungewöhnliches ist. Trotzdem heißt die Herausforderung für die beiden großen Parteien, die Bindungskräfte wieder zu stärken.

SPIEGEL: Wie sieht die politische Zukunft von Peer Steinbrück aus?

Steinbrück: Die Frage beantworte ich heute nicht.