Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Deutschen Bundestag: "Aus Verantwortung für unser Land: Deutschlands Kräfte stärken"
Es gilt das gesprochene Wort.
Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Vor fast genau zwei Jahren habe ich hier im Deutschen Bundestag die Agenda 2010 vorgestellt. Die Agenda 2010 ist die Antwort auf zwei zentrale Herausforderungen für unser Land: Demographie und Globalisierung. Die Agenda 2010 sorgt dafür, dass wir angesichts radikaler Veränderungen, denen nicht nur wir ausgesetzt sind, wirtschaftliche Kraft behaupten und entwickeln und dass wir als Sozialstaat den inneren Frieden erhalten. Die Agenda 2010 ist das größte und umfassendste Reformprogramm in der Geschichte unseres Landes. Sie greift mit ihren Maßnahmen und Wirkungen weit über die laufende Wahlperiode hinaus.
Wir haben die für Wirtschaft und Gesellschaft notwendigen Reformen gegen zum Teil heftige Widerstände durchgesetzt. Jetzt glauben viele: damit sei die Arbeit getan, die Reformen gleichsam erledigt und abgehakt. Das ist weit gefehlt.
Vor uns liegt der schwierigste Teil der Reformarbeit: die Arbeit der Umsetzung.
Denn nachdem die Reformen im Gesetzblatt stehen, müssen wir nunmehr alles daran setzen, dass sie gesellschaftliche Wirklichkeit werden. Täusche sich also niemand: Wir werden an den Reformen konsequent festhalten, und wir werden sie entschlossen wie bisher umsetzen. Dabei müssen wir genau unterscheiden zwischen den Zielen und den Mitteln von Reformpolitik.
Das alles überragende Ziel von Reformpolitik kann doch nur darin bestehen, unter radikal gewandelten Bedingungen das zu bewahren, was Generationen vor uns mit Mühe und Fleiß aufgebaut haben. Zu hüten und zu mehren, was sie an Wohlstand erarbeitet haben.
Meine Damen und Herren,
bevor ich im einzelnen darlege, welche Reformen wir mit der Agenda 2010 in Angriff genommen haben, was wir bereits verwirklicht haben und welche Wirkungen zu verzeichnen sind, will ich auf die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt eingehen.
Allein in diesem Jahr wird die Zahl der Erwerbstätigen um rund 300.000 steigen. Deutlich mehr als im Vorjahr, als die Erwerbstätigkeit bereits um fast 140.000
Personen zugenommen hat. Zugleich liegt die Zahl der statistisch erfassten Arbeitslosen bei mehr als fünf Millionen. Dieses Ausmaß der Arbeitslosigkeit bedrückt uns alle.
Aber, und das gehört zu einer aufrichtigen und wahrhaftigen Debatte hinzu, es ist keine Zahl, die zufällig oder überraschend kam. Seit Januar sind 360.000 erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger neu in die Arbeitslosenstatistik gekommen.
Doch das sind keine "neuen" Arbeitslosen. Wir haben nur Schluss damit gemacht, diese Arbeitslosigkeit im System der Sozialhilfe zu verstecken. Wir haben die Statistik dadurch ehrlich und durchschaubar gemacht.
Damit die Dimensionen einmal klar werden: Zwischen 1980 und 1998 ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger von 900.000 auf rund 2,9 Millionen angestiegen. Fast die Hälfte der Sozialhilfeempfänger war jünger als 25 Jahre. Diese Menschen lebten vielfach am Rand der Gesellschaft – ausgegrenzt und vergessen. Sie sind zum Teil bewusst aus den Arbeitsämtern in die Sozialämter abgeschoben worden. Wir holen sie jetzt aus dieser Sackgasse heraus, weil es ein Armutszeugnis für unser Land ist, erwerbsfähige Menschen auf Dauer zu alimentieren, ohne ihnen eine Perspektive zu geben.
Wie aus Zahlen des Statistischen Bundesamts hervorgeht, haben die großen Städte in Deutschland rund 95 Prozent ihrer Sozialhilfeempfänger in das Arbeitslosengeld II umgemeldet. Ein Vorgang, der zu einem statistischen Anstieg der Zahl der Arbeitslosen führen musste. Und ein Vorgang, der gewollt gewesen ist, soweit es sich um erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger handelt. Denn diese Personengruppe erhält durch unsere Reformen zum ersten Mal die Chance auf Qualifikation und Vermittlung in Arbeit.
Und genau darauf richtet sich unser ganzes Bestreben: Wir wollen Menschen ohne Beschäftigung schneller und besser vermitteln. Damit sie ein selbstbestimmtes, von Sozialleistungen unabhängiges Leben führen können.
Meine Damen und Herren,
ich habe dargestellt, warum es den vorübergehenden Anstieg der Arbeitslosenzahlen gibt. Der Grund dafür ist die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe. Niemand, der für sich in Anspruch nimmt, redlich zu argumentieren, kann diesen Zusammenhang bestreiten.
Dieser Hinweis ist deswegen so bedeutsam, weil die Menschen auf die Zahl der Arbeitslosen verunsichert und verängstigt reagiert haben. Das ist durchaus verständlich, weil die Sorge um die eigene materielle Existenz, die persönliche Zukunft und die Zukunft der Familie bis weit in die Schicht der Arbeitnehmer und Durchschnittsverdiener verbreitet ist.
Wofür ich aber nicht das geringste Verständnis habe, sind unverantwortliche Kampagnen purer Angstmache, die allein bezwecken, die diffusen Ängste der Menschen zu verstärken und auszunutzen.
Meine Damen und Herren,
ein ganz wesentliches Anliegen der Agenda 2010 ist es, das Prinzip der Sozialstaatlichkeit zu verteidigen. Praktisch heißt das, die sozialen Sicherungssysteme für die Beschäftigten bezahlbar und für die Bedürftigen leistungsfähig zu halten.
Die Gesundheitsreform ist deshalb ein ganz besonders anschauliches Beispiel für die Wirksamkeit der Agenda 2010. Die Gesundheitsreform ist seit gut einem Jahr in Kraft und in gewisser Weise das Musterbeispiel für den Verlauf von Reformprozessen.
Am Anfang fühlte man sich wegen der Einführung der Praxisgebühr geradezu an vorrevolutionäre Zustände erinnert. Doch die damalige Aufregung hielt nicht lange an. Die Bürgerinnen und Bürger wissen doch ganz genau, dass Reformen sein müssen, wenn unser Gesundheitssystem nicht aufs Spiel gesetzt werden soll. Und sie haben eingesehen, dass gerade die Gesundheitsreform überaus vernünftig ist.
Das überrascht auch nicht, wenn wir uns einmal die Ergebnisse dieser Reform nach nur einem Jahr betrachten. Unabhängig von Alter oder Geldbeutel haben alle Bürgerinnen und Bürger wie bisher Anspruch auf eine Behandlung, die alles umfasst, was medizinisch erforderlich ist.
Zugleich sind die Effekte der Reform wie vorhergesagt eingetreten. Hatten die gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2003 noch ein Defizit von etwa drei Milliarden Euro, machten sie im vergangenen Jahr einen Überschuss von vier Milliarden Euro. Das ist ein turn-around, bewirkt durch die Gesundheitsreform, von sieben Milliarden Euro.
Diesen enormen Überschuss haben übrigens die Versicherten durch ihr kostenbewusstes Verhalten erwirtschaftet. Dafür müssen sie nach meiner festen Überzeugung belohnt werden, und zwar durch niedrige Beiträge. Die Versicherten haben Anspruch auf eine Reformdividende. Und die finanziellen Spielräume für Beitragssenkungen sind vorhanden.
Nur zu verständlich finde ich, wenn Versicherte empört sind, weil ihnen Beitragssenkungen vorenthalten werden, während sich Vorstände von Krankenkassen wegen der großen Überschüsse Erfolgsprämien genehmigen.
Meine Damen und Herren,
es ist der Bundesregierung auch gelungen, den Anstieg der Lohnnebenkosten endlich zu stoppen. Die Beiträge zu den Sozialkassen sind heute geringer als bei unserem Regierungsantritt. Das war nur zu erreichen, weil wir den Rentenbeitrag durch unsere Reformmaßnahmen stabil halten können.
Und das, obwohl sich die Altersstruktur der Bevölkerung immer weiter verschiebt. Der Anteil älterer Menschen wird weiter deutlich zunehmen und die Zahl der Beitragszahler abnehmen. Die durchschnittliche Lebenserwartung wird bis zum Jahr 2030 noch einmal um drei Jahre steigen. Und die Zeit des Rentenbezugs wird sich erheblich verlängern.
Aber das ist doch keine Katastrophe. Das ist ein Glücksfall für uns und für kommende Generationen. Man muss nur die richtigen Konsequenzen daraus ziehen, dass unsere Gesellschaft älter wird.
Wir haben auf die fundamentalen Veränderungen reagiert. Wir haben die kapitalgedeckte Altersvorsorge als neue Säule der Alterssicherung eingeführt. Eine Erfolgsgeschichte, wie sich herausstellt. Fast 20 Millionen Bürger haben sich – ob als Riester-Rente oder als betriebliche Altersversorgung – bereits für eine kapitalgedeckte Zusatzversorgung entschieden.
Deutliche Fortschritte haben wir auch in einer anderen Frage erreicht: Wenn wir die Rentenfinanzen in Ordnung halten wollen, muss das tatsächliche Renteneintrittsalter dem gesetzlichen weiter angenähert werden. Zwar gehen die Menschen heute bereits ein Jahr später in Rente als noch 1998. Dennoch: Wir müssen und werden weiter darauf drängen, dass der tatsächliche Renteneintritt nicht bei 62 oder 63, sondern bei 65 Jahren liegt.
Ob wir darüber hinaus gehen müssen, wird zu entscheiden sein, wenn zuverlässige Daten über die weitere Entwicklung des Altersaufbaus unserer Gesellschaft vorliegen.
Wir haben daneben noch eine andere Strukturreform in der Rentenversicherung durchgesetzt, deren Bedeutung vielfach unterschätzt wird. Ich meine die nachgelagerte Besteuerung bei den Rentenbeiträgen. Dadurch werden bereits in diesem Jahr die aktiv Beschäftigten und die Arbeitgeber deutlich entlastet.
Meine Damen und Herren,
das zweite wesentliche Element der Agenda 2010 betrifft die Neuordnung des Arbeitsmarktes. Maßgeblich ist dafür das Grundprinzip des "Förderns und Forderns". Danach kann jeder auf die Hilfe der Gemeinschaft vertrauen, wenn er ohne sie nicht zurecht kommt. Zugleich darf und muss die Solidargemeinschaft erwarten, dass jeder sein Mögliches tut, um seinen Lebensunterhalt aus eigenen Kräften zu bestreiten.
Mehr Flexibilität und mehr Eigenverantwortung auf dem Arbeitsmarkt haben wir mit den Strukturreformen erreicht, die landläufig als Hartz-Gesetze bezeichnet werden. Neue Instrumente wie Ich-AGs oder Mini-Jobs haben eine Dynamik auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst.
Es hat sich als richtig erwiesen, speziell für gering Qualifizierte neue Beschäftigungsperspektiven in einem Niedriglohnsektor zu eröffnen.
Und mit einem Vorurteil können wir auch gleich aufräumen: Es ist nicht zutreffend, dass Mini-Jobs nur dort entstehen, wo sie sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ersetzen. In der Realität entstehen Mini-Jobs gerade in den Branchen, die neue Vollzeitstellen schaffen.
Meine Damen und Herren,
ein besonders wichtiges und ehrgeiziges Reformprojekt betrifft den Umbau der Bundesagentur für Arbeit. Ich will dazu etwas anmerken, weil ich den Eindruck habe,
dass die Bedeutung dieser Reform von vielen völlig unterschätzt wird.
Die alte Bundesanstalt für Arbeit mit ihren 90.000 Mitarbeitern war eine Mammutbehörde, schwerfällig und von Amtsdenken geprägt. Im Vordergrund stand die möglichst geräuschlose Verwaltung von Arbeitslosigkeit.
Die neue Bundesagentur für Arbeit dagegen folgt einem ganz anderen Selbstverständnis. Sie versteht sich als Dienstleister, als Partner für Unternehmen und Arbeitsuchende. Sie kennt nur ein Ziel: die möglichst schnelle Vermittlung in Arbeit.
Was als Organisationsreform bezeichnet wird, ist in Wahrheit eine Kulturrevolution. Die natürlich nicht von heute auf morgen abgeschlossen sein kann. Die noch nicht den Alltag in jeder Arbeitsagentur oder in jedem Kundenzentrum bestimmt.
Aber wer sich auch nur einigermaßen damit auskennt, wie schwer es großen Unternehmen fällt, Organisationsabläufe und Hierarchien zu verändern, der kann ermessen, was Vorstand und Mitarbeiter der Bundesagentur geleistet haben. Dafür gebührt ihnen Respekt und Anerkennung.
Das beziehe ich ausdrücklich auch auf die Einführung des Arbeitslosengeldes II. In nur wenigen Wochen wurden Hunderttausende Anträge auf Arbeitslosengeld II geprüft und bearbeitet. Und die Empfänger haben pünktlich ihr Geld erhalten.
Das von den notorischen Schwarzmalern befürchtete – oder gar erhoffte – Chaos ist ausgeblieben. Die Mitarbeiter der Bundesagentur haben bewiesen: Reformen in Deutschland funktionieren. Und das sollte man auch hier im Hohen Haus einmal würdigen.
Ab sofort allerdings müssen in den Arbeitsagenturen alle Kräfte darauf konzentriert werden, Vermittlung und Eingliederung voranzubringen. Der Bundesagentur stehen in diesem Jahr fast zehn Milliarden Euro für Beschäftigung und Qualifizierung zur Verfügung. Dieses Geld gehört nicht auf die hohe Kante. Es muss dafür verwendet werden, Menschen in Arbeit zu bringen.
Meine Damen und Herren,
eine Betrachtung des Arbeitsmarktes wäre unvollständig, ohne auf die Ausbildungssituation einzugehen. In einer wirklich beispielhaften gemeinsamen Anstrengung ist es uns mit dem Ausbildungspakt gelungen, mehr neue betriebliche Ausbildungsverträge abzuschließen.
Dieser Kraftakt darf aber nicht einmalig bleiben. In diesem und auch im nächsten Jahr werden noch mehr junge Menschen eine Ausbildungsstelle suchen. Wir müssen alles daran setzen, den Erfolg des Ausbildungspakts zu wiederholen. Das sind wir den jungen Menschen schuldig, die auf einen erfolgreichen Einstieg in das Berufsleben hoffen.
Deshalb bleibt die Wirtschaft in der Pflicht, einerseits Zukunftsvorsorge in eigener Sache zu betreiben und andererseits ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung gerecht zu werden. Denn der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, die soziale Kohäsion und der innere Frieden bestimmen unseren wirklichen Reichtum, nicht die Renditen irgendeines Unternehmens.
Meine Damen und Herren,
der dritte große Bereich der Agenda 2010 betrifft die Stärkung der Wachstumskräfte
durch Impulse für Investitionen und Konsum, durch Anreize für mehr Beschäftigung. Schauen wir auch für diesen Bereich an, was wir uns vorgenommen hatten und was wir erreicht haben.
Das Erfreuliche vorweg: Die deutsche Wirtschaft hat die Phase der Schwäche und Stagnation endgültig überwunden. Mit 1,6 Prozent gab es im vergangenen Jahr wieder ein substanzielles Wachstum. Auch in diesem Jahr bleibt die deutsche Wirtschaft klar auf Wachstumskurs. Die Entwicklung ist weiter aufwärts gerichtet.
Das Verarbeitende Gewerbe meldet eine deutliche Zunahme bei den Aufträgen. Die Industrieproduktion zieht kräftig an. Die Zahl der Gewerbeanmeldungen wächst deutlich. Die Kapazitätsauslastung steigt kontinuierlich. Die Exporte legen weiter zu. Das Konsumklima hat sich stark verbessert.
Die Binnennachfrage entwickelt sich positiv. Das zeigt der kontinuierliche Anstieg des Aufkommens der Binnenumsatzsteuer: Im Februar wuchs das Aufkommen um fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Angesichts dieser objektiven Fakten sind die hektischen Korrekturen einiger Wachstumsprognosen schlicht nicht nachvollziehbar. Wer wöchentlich immer neue Zahlen in die Welt setzt, korrigiert nicht das Wachstum, der korrigiert und
dementiert nur sich selbst. Das hat wenig mit seriöser Analyse zu tun, dafür umso mehr mit wissenschaftlich verbrämter Beliebigkeit und auffälliger
Publicity-Sucht.
Meine Damen und Herren,
gelegentlich ist zu hören, unser Wachstum werde leider vom Export getragen.
Warum leider? Wir sollten stolz sein auf die Stärke und die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft. Seit Jahren ist Deutschland Exportweltmeister.
Die deutschen Exporte schließen mit immer neuen Rekordwerten ab. So stiegen die deutschen Ausfuhren im vergangenen Jahr um mehr als zehn Prozent. Und im Januar haben sie nochmals kräftig zugelegt. Nämlich um nicht zu erwartende 9,5 Prozent gegenüber Januar 2004.
Der Exportboom hält also an. Und das ungeachtet einer ungünstigen Euro-
Dollar-Relation. Daran wird deutlich, welche Kraft in der deutschen Volkswirtschaft steckt. Nur die deutsche Wirtschaft hat trotz härtester Konkurrenz auf den internationalen Märkten Anteile hinzugewonnen. Es gibt nichts, was die ausgezeichnete Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft überzeugender belegen könnte.
In der ganzen Welt spricht sich herum: In Deutschland bewegt sich was. Der so genannte Standort Deutschland genießt den allerbesten Ruf. Die Arbeitnehmer sind hoch qualifiziert, die Infrastruktur vorzüglich, der soziale Frieden einmalig.
Zu dieser wieder gewonnenen Attraktivität unseres Landes für internationale Investoren hat ganz wesentlich die Steuerpolitik der Bundesregierung beigetragen. Durch unsere Steuerpolitik entlasten wir Unternehmen und Bürger um fast 60 Milliarden Euro.
Wir haben die Steuersätze, unten und oben, um jeweils 11 Prozentpunkte gesenkt. Den Eingangssteuersatz auf 15 Prozent, den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent. Durch diese Absenkung sowie durch die pauschalierte Anrechnung der Gewerbesteuer wird allein die mittelständische Wirtschaft um 17 Milliarden Euro jährlich entlastet.
Bei der Körperschaftssteuer haben wir die Besteuerung einbehaltener Gewinne auf 25 Prozent gesenkt.
Aber auch an anderer Stelle haben wir alte Zöpfe abgeschnitten und verkrustete Strukturen aufgeweicht. Ich denke hierbei an das überkommene und erkennbar angestaubte Handwerksrecht, das wir einer Revision unterzogen haben.
Wir haben in vielen Handwerksberufen den Meisterzwang abgeschafft. Das Ergebnis gibt uns recht: In nur sechs Monaten wurden 12.000 neue Betriebe gegründet.
Und auch die Altgesellen-Regelung wirkt: Seitdem Gesellen mit ausreichender Berufserfahrung ein Unternehmen gründen oder selbständig führen dürfen, machen sie davon auch regen Gebrauch.
Durchgängig bestätigt sich damit das Erfolgsrezept der Agenda 2010: nämlich bei Reformen pragmatisch und orientiert am konkreten Bedarf vorzugehen.
Reformen sind nicht dann gut, wenn sie möglichst radikal sind. Ihre Güte und Qualität bemisst sich allein danach, ob sie dem Einzelnen und dem Ganzen nutzen. Alles andere ist rhetorisches Schattenboxen.
Pragmatismus und Praxisbezug unserer Reformen möchte ich am Beispiel des Kündigungsschutzes verdeutlichen. In Betrieben mit bis zu zehn Beschäftigten gilt der Kündigungsschutz nicht für Arbeitnehmer, die ab Januar 2004 eingestellt worden sind. Bei betriebsbedingten Kündigungen haben wir die Sozialauswahl flexibler und anwendbarer gestaltet. Für neugegründete Unternehmen haben wir die Möglichkeiten der befristeten Beschäftigung deutlich ausgeweitet.
Für ältere Arbeitnehmer ab 50 Jahren gelten die Befristungsmöglichkeiten praktisch unbegrenzt. Damit ist der Kündigungsschutz für Arbeitnehmer ab 50 Jahren de facto abgeschafft.
Ich weiß wohl, dass diese Regelung zunächst bis 2006 gilt. Dann wird zu entscheiden sein, ob sie verlängert werden soll. Darüber kann man reden, wenn die Wirtschaft nachweist, dass diese Regelung wirklich zu Einstellungen führt.
Doch bisher, und das ist die traurige Realität, haben die Unternehmen keine älteren Arbeitnehmer eingestellt.
Im Gegenteil: Nicht einmal 40 Prozent der 55- bis 64jährigen sind überhaupt noch erwerbstätig. Das ist eine Vergeudung von Ressourcen, eine Missachtung von Wissen, Erfahrungen und Qualifikationen, die auch ökonomisch nicht vernünftig ist.
Wer in dieser Situation die totale Abschaffung des Kündigungsschutzes fordert, der will lediglich einen ideologischen Popanz aufbauen.
Ganz ähnlich verhält es sich im übrigen mit den betrieblichen Bündnissen. Die Forderung nach gesetzlichen Regelungen ist Teil einer Scheindebatte, um nicht zu sagen einer scheinheiligen Debatte. Alles das, was eingefordert wird, ist in der Praxis doch längst möglich. Ob Öffnungsklauseln oder andere Abweichungen von Tarifverträgen.
Die Vereinbarungen in jüngster Zeit etwa bei Siemens oder Opel haben eindrucksvoll gezeigt, dass freiwillige Lösungen funktionieren. Und solange freiwillige Lösungen funktionieren, gibt es keinen Bedarf für gesetzliche Regelungen.
Meine Damen und Herren,
wenn wir heute, zwei Jahre nach Vorstellung der Agenda 2010 eine Zwischenbilanz ziehen, dann fällt dieses vorläufige Fazit positiv aus. Die Reformen beginnen zu wirken. Die erwarteten Effekte stellen sich nach und nach ein. Und so
kommt die OECD in ihrem aktuellen Wirtschaftsbericht für Deutschland zu folgender Bewertung: "Mit der Agenda 2010 hat die Bundesregierung eine bedeutende Reforminitiative zur Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums auf den Weg gebracht."
Und doch werde ich Ihnen heute gezielt wirkende Maßnahmen für mehr Wachstum und Beschäftigung vorstellen, die die Agenda 2010 ergänzen und verstärken. Warum ist das sinnvoll und erforderlich?
Erstens: Deutschland ist wie kein anderes Land von der Entwicklung der Weltwirtschaft abhängig. Noch stimmen die Aussichten zuversichtlich. Aber zunehmend bedrohen Instabilitäten, besonders im Nahen und Mittleren Osten, die Weltkonjunktur.
Bei den Auswirkungen auf die Ölpreise wird dieser Zusammenhang offensichtlich. Ein US-Dollar mehr pro Barrel Rohöl verteuert die Öl- und Gaskosten der deutschen Volkswirtschaft um eine Milliarde Euro.
Politische Stabilität im Nahen und Mittleren Osten ist daher für uns von unmittelbarer und von existenzieller Bedeutung.
Folgende Konflikte sind es, deren Lösung in diesem Zusammenhang vordringlich ist: Wir brauchen zum einen eine politische Lösung des historischen Nahost-Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern.
Dann geht es im Irak darum, Stabilität zu schaffen und die demokratische Entwicklung dieses Landes zu unterstützen.
Schließlich: Wir Europäer wollen die iranische Führung in Verhandlungen davon überzeugen, auf die Produktion und Verfügung von atomaren Waffen zu verzichten.
Es ist Aufgabe der internationalen Politik, dem Nahen und Mittleren Osten zu der dringend benötigten Stabilität zu verhelfen. Denn Sicherheit und friedliche Entwicklung sind unverzichtbar für eine prosperierende Weltwirtschaft und für wirtschaftliches Wachstum bei uns.
Zweitens: Obwohl durch die Fakten und die objektiven Trends nicht begründet, gibt es in Wirtschaft und Gesellschaft eine verbreitete Haltung der Verzagtheit und des Attentismus.
Die psychologischen Ursachen für Zurückhaltung und Verunsicherung hängen ganz maßgeblich mit dem Zusammenbruch der New economy zusammen.
Damals glaubten viele, sie könnten leicht und schnell reich werden. Die meisten aber haben Geld, viel Geld, verloren. 700 Milliarden Euro wurden allein an deutschen Börsen zwischen 2000 und 2003 buchstäblich vernichtet. Das hat Verbraucher und Investoren bis ins Mark getroffen.
Niemand kann die Verluste von damals ungeschehen machen. Aber wir alle in Politik, Wirtschaft, Kultur und insbesondere in den Medien können dazu beitragen, Missmut und Pessimismus zu überwinden. Statt in den üblichen Ritualen zu verharren, ist mir an einem Signal für einen mentalen Wandel gelegen.
Statt der sattsam bekannten Nörgelei und ewigen Miesmacherei brauchen wir eine politische Kultur, die ermuntert, die ermutigt und die ermöglicht. Konjunktur und Beschäftigung hängen im wesentlichen ab von Zukunftserwartungen. Und bei denen bestimmt nun einmal der Ton die Musik.
Und drittens: Reformen, die historisch gewachsene Strukturen verändern, brauchen Zeit. Nicht allein bei der Durchsetzung, sondern mehr noch bei ihrer Umsetzung, bis sie also ihre volle Wirksamkeit entfaltet haben. Und Reformen brauchen Geduld und Vertrauen, da ihr wahres Potenzial sich erst nach Monaten oder gar Jahren in der Praxis beweist. Reformen zielen gerade nicht auf kurzfristige, einmalige Impulse, sondern auf langfristige, dauerhafte Effekte durch strukturellen Wandel.
Es sind angesichts der Entwicklung von Wachstum und Arbeitsmarkt drei Gründe, warum ich heute ein schnell wirkendes Maßnahmenbündel vorlege, das neue und kräftige Impulse für Konjunktur und Beschäftigung geben wird.
Dieses Maßnahmenbündel ist sinnvoll und wünschenswert wegen der erheblichen Risiken durch internationale Krisen und außenwirtschaftliche Faktoren.
Wegen der labilen psychologischen Situation und der dadurch bedingten Investitions- und Kaufzurückhaltung.
Und wegen der erst allmählich sich einstellenden Wirkungen unserer Strukturreformen, deren ganzes Potenzial noch gar nicht ausgeschöpft sein kann, wenn ich nur daran denke, dass nach Hartz IV zunächst einmal die Erwerbsfähigkeit geprüft und festgestellt werden muss.
Um Wachstum und Arbeitsmarkt auf Touren zu bringen, bedarf es jetzt einer schnellen Start- und Überbrückungshilfe. Ein zündendes Initial, das dem Wirtschaftsmotor Schwung gibt und den Wachstumskräften Energie zuführt.
Aus Verantwortung für unser Land schlage ich dem Deutschen Bundestag deshalb heute konkrete Maßnahmen vor, um die Kräfte des Arbeitsmarktes, die Wettbewerbsfähigkeit, die Wachstumskräfte und die Investitionen in die Zukunft Deutschlands zu stärken.
Erstens: Wir werden die Kräfte des Arbeitsmarktes stärken.
Auf dem Arbeitsmarkt sind die grundlegenden Reformen eingeleitet. Strukturen der Arbeitsverwaltung und der Kommunalverwaltung werden zusammengeführt. Dabei werden Reibungsverluste sichtbar, die schnellstmöglich abgestellt werden müssen. In dieser Situation geht es darum, mit sehr konkreten Maßnahmen zusätzliche Beschäftigungsimpulse anzustoßen.
Ich habe es immer für einen Fehler gehalten, dass die Opposition im Vermittlungsausschuss großzügigere Hinzuverdienstmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose verhindert hat.
Meine Aufforderung lautet: Lassen Sie uns gemeinsam bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten für Bezieher von Arbeitslosengeld II – wie ursprünglich vorgesehen – schaffen. Dadurch erhöhen wir die Anreize, eine Beschäftigung aufzunehmen.
Mit der Hartz IV-Reform werden wir für die unter 25-Jährigen die Betreuung mit dem angestrebten Personalschlüssel von 1 zu 75 in den Job-Centern verbessern. Niemand soll am Anfang seines Berufslebens länger als drei Monate arbeitslos sein. Ein ehrgeiziges Ziel. Aber ein Ziel, von dem wir nicht abgehen, das uns Verpflichtung ist.
Das gilt für alle Jugendlichen, die Probleme am Arbeitsmarkt haben und nicht nur für diejenigen, die aus der Grundsicherung kommen.
In Ostdeutschland werden wir gemeinsam mit den Kammern durch eine Förderung von Ausbildungsverbünden das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen erhöhen.
Ein weiterer Schwerpunkt unserer Maßnahmen am Arbeitsmarkt ist die berufliche Eingliederung älterer Arbeitnehmer.
Die Bundesregierung wird mit einem 250 Millionen-Euro-Programm bis zu 50
regionale Beschäftigungspakte für ältere Langzeitarbeitslose fördern. Denn wir brauchen jetzt eine gemeinsame Anstrengung von Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik, wie wir sie beim Ausbildungspakt erlebt haben. Die Instrumente sind vorhanden.
Ich werde Arbeitgeber und Gewerkschaften einladen, damit wir das Ziel erreichen, mehr ältere Menschen wieder in Arbeit zu bringen.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung bereits wichtige Weichen gestellt:
– Arbeitgeber, die ältere Arbeitnehmer einstellen, erhalten einen Eingliederungszuschuss von bis zu 50 Prozent des laufenden Arbeitsentgelts. Der Zuschuss wird für über 50-Jährige drei Jahre und für über 55-Jährige acht Jahre lang gezahlt.
– Arbeitgeber erhalten darüber hinaus bei der Einstellung von über 55-Jährigen einen Beitragsbonus in Höhe von 3,25 Prozent des Bruttoentgelts für die gesamte Beschäftigungsdauer.
– In kleinen und mittleren Unternehmen werden die Weiterbildungskosten für die über 50-Jährigen übernommen.
Meine Damen und Herren,
wir werden befristete Beschäftigung noch flexibler machen. Das hilft insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen.
Die Bundesregierung wird für befristet Beschäftigte das absolute Verbot einer Vorbeschäftigung beim gleichen Arbeitgeber aufheben und auf nur noch zwei Jahre beschränken.
Die Bundesregierung wird zum Schutz für mittelständische Unternehmen den Dienstleistungsmissbrauch – wie er zur Zeit im Bereich der Fleischverarbeitung sichtbar wird – bekämpfen.
Auch aus dem Handwerksbereich nehmen Meldungen zu, dass die bestehenden Beschränkungen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch Scheinselbständigkeit umgangen werden. Dadurch werden Arbeitplätze bei uns gefährdet und der positive Prozess der europäischen Integration geschädigt.
Die Bundesregierung wird eine Task Force "Missbrauchsbekämpfung" einrichten, die – zusammen mit den Ländern – aktiv gegen den Missbrauch vorgehen wird. Von den Ländern erwarte ich, dass sie zur Unterstützung eigene Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften einrichten.
Von den betroffenen Unternehmen erwarte ich, dass sie vermutete Missbrauchstatbestände ihrer Konkurrenten schnell melden, damit die Task Force effektiv arbeiten kann.
Zweitens: Wir werden die Investitionskräfte stärken.
Die Bundesregierung wird Maßnahmen ergreifen, die ganz gezielt Investitionen und damit Beschäftigungswachstum in Deutschland befördern.
Die Existenzgründung wird weiter entbürokratisiert, indem Genehmigungsprozesse beschleunigt werden. Unser Ziel sind One-Stop-Shops als kompetente öffentliche Anlaufstellen für Gründer. Als wichtiger Schritt hierzu wird bei der Mittelstandsbank des Bundes in diesem Jahr ein zentrales Informationssystem "startothek" für Gründer aufgebaut.
Darüber hinaus wird die Bundesregierung die Gründung von GmbHs mit zwei entscheidenden Maßnahmen deutlich erleichtern:
Zum einen wird im Rahmen der Reform des GmbH-Rechts das für die Gründung
notwendige Mindestkapital von derzeit 25.000 Euro substantiell verringert. Zum anderen werden wir ein elektronisches Handels- und Unternehmensregister bis zum 1. Januar 2007 einführen. Damit wird die Eintragung einer GmbH-Neugründung innerhalb weniger Tage, statt wie bisher erst innerhalb eines Monats, möglich.
Ja, es gibt eine Diskussion über zuviel Bürokratie in diesem Land. Diese Diskussion ist nicht neu. Aber sie ist richtig, was die Erwartung an Politik angeht.
Daher wird die Bundesregierung umgehend rund 300 überflüssige Gesetze und Rechtsverordnungen abschaffen. Diesen Prozess der Entbürokratisierung werden wir konsequent fortsetzen.
Meine Damen und Herren,
mit einem 2-Milliarden-Euro-Verkehrsprogramm werden wir Investitionen für
mehr Mobilität auslösen und die deutsche Bauwirtschaft unterstützen. Zahlreiche baureife Projekte wie zum Beispiel der Ausbau der A 2 in Nordrhein-Westfalen oder die Elektrifizierung der Schienenstrecke Hamburg-Lübeck werden realisiert.
Ob wir zur ergänzenden Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur darüber hinaus neue Wege gehen, wie etwa unsere österreichischen Nachbarn, sollten wir im Deutschen Bundestag offen diskutieren.
Zudem werden weitere Infrastrukturprojekte durch ein Public-Private-Partnership-Programm vorgezogen. Verglichen mit dem Ausland wird bei uns das Instrument der Public Private Partnership bislang unzureichend genutzt.
Noch vor der Sommerpause werden wir den Entwurf eines Public-Private-Partnership-Beschleunigungsgesetzes vorlegen.
Damit lassen sich große Verkehrsprojekte wie zum Beispiel Autobahnabschnitte der A 1 und der A 4 in Nordrhein-Westfalen, der A 5 in Baden-Württemberg oder der A 4 in Thüringen zusammen mit der Wirtschaft deutlich schneller umsetzen.
Auch für finanzierungsfähige Projekte brauchen wir in Deutschland zu lange von der Planung bis zur Realisierung. Die Bundesregierung wird deshalb noch vor der Sommerpause den Entwurf eines Planungsvereinfachungsgesetzes vorlegen.
Straße, Schiene und auch Stromnetze können dann beschleunigt ausgebaut werden. Denn enorme Investitionspotenziale werden sich mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes eröffnen.
Ein großer Energieversorger hat bereits angekündigt, in den nächsten Jahren mehr als eine Milliarde Euro in zwei neue Kraftwerke investieren zu wollen.
Insgesamt kann die Branche bis 2010 rund 20 Milliarden Euro in Energienetze und die Modernisierung von Kraftwerken investieren.
Ich erwarte, dass die hierzu notwendigen Entscheidungen jetzt schnell getroffen werden.
Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm wird bis Ende 2007 auf dem bisherigen Niveau verlängert. Das ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz. Immerhin lassen sich im Gebäudebestand Energieeinsparungen bis zu 70 Prozent erzielen.
Mit einem Darlehensvolumen von mehr als 700 Millionen Euro werden wir Investitionen von bis zu 5 Milliarden Euro auslösen. Dies sichert mehr als 60.000 Arbeitsplätze, vor allem im deutschen Handwerk und Baugewerbe.
Drittens: Wir werden die Wettbewerbsfähigkeit stärken.
Die deutsche Wirtschaft muss sich in einem harten globalen Standortwettbewerb behaupten und durchsetzen. Länder wie China und Indien, aber auch Polen, Tschechien, ja ganz Osteuropa, stehen zu unserer Volkswirtschaft in immer intensiverer Konkurrenz.
Diesem Wettbewerb können wir uns nicht entziehen. Er wird vor allem ausgetragen über die Höhe der Unternehmenssteuern, über die Qualifikation und Flexibilität der Beschäftigten und über die Güte der nationalen Infrastruktur. Nach diesen Kriterien entscheiden international tätige Unternehmen, ob sie in Deutschland investieren und Arbeitsplätze schaffen.
Deswegen hat die Bundesregierung die Unternehmenssteuern in den vergangenen Jahren bereits stärker abgesenkt als jede Regierung vor ihr. Das war notwendig, denn das hat die deutsche Wirtschaft stark gemacht. Das war richtig, wie unsere Exporterfolge beweisen.
Aber weil die in Europa so ungleiche Belastung bei den Unternehmenssteuern Arbeitsplätze bei uns gefährdet, müssen wir handeln. Und die Bundesregierung wird handeln.
Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.
Genauso wahr ist die Feststellung, dass wir mehr öffentliche Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur, für Bildung und Forschung und für den Erhalt der sozialen Sicherungssysteme benötigen.
Das ist die Kehrseite des globalen Wettbewerbs: Staatliche Aufgaben werden nicht überflüssig. Im Gegenteil, sie werden wichtiger denn je. Ohne einen leistungsfähigen Staat, der soziale Sicherheit garantiert, der Chancengerechtigkeit herstellt und den inneren Frieden bewahrt, kann kein Land im globalen Wettbewerb erfolgreich sein.
Darüber hinaus wäre es – auch vor dem Hintergrund des demographischen Wandels – unverantwortlich, das Ziel der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wieder aufzugeben.
Der Balance aus Wachstum, Beschäftigung und Haushaltskonsolidierung gelten letztlich auch unsere gemeinsamen europäischen Bemühungen um eine Reform des Stabilitätspaktes, die ein zentrales Thema des Europäischen Rates in der nächsten Woche sein wird.
Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung den Sachverständigenrat beauftragt, eine umfassende Unternehmenssteuerreform auszuarbeiten. Ich bin dem Sachverständigenrat dankbar, dass er sein Gutachten für eine umfassende Reform der Unternehmensteuer noch in diesem Jahr vorlegt.
Aber ich bin genauso überzeugt davon, dass wir bis dahin nicht einfach abwarten sollten. Ich möchte schon jetzt ein deutliches und zusätzliches Signal für mehr Wachstum und Beschäftigung setzen.
Meine Damen und Herren,
mit der Ausweitung des ERP-Innovationsprogramms für den Mittelstand werden wir die Wettbewerbsposition deutscher Unternehmen stärken. Die Mittelstandsbank des Bundes, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, wird innovativen Mittelständlern Kredite zwei Prozent unter dem Marktzins anbieten.
Viertens: Wir werden die Investitionen in die Zukunft stärken.
Mit der Agenda 2010 haben wir die notwendigen Reformen in den sozialen Sicherungssystemen begonnen. Diese Reformen sind kein Selbstzweck. Durch die Reformen wollen wir Ressourcen erschließen, um stärker als bisher in die Zukunft unseres Landes – in Bildung, Kinderbetreuung, Forschung und Entwicklung zu investieren.
Wir wissen: Die langfristige internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft hängt ganz wesentlich von der Entschlossenheit ab, mit der Staat und Unternehmen in Bildung und Forschung investieren.
Bis 2010 wollen wir den Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung von 2,5 Prozent auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukt erhöhen. Dazu müssen wir mutig und beherzt Vergangenheitssubventionen abbauen, um Mittel für Zukunftsinvestitionen frei zu bekommen.
Es ist daher ein gutes Zeichen, dass die Opposition nunmehr Bereitschaft signalisiert, bei der Abschaffung der Eigenheimzulage konstruktiv voranzukommen.
Ich höre wohl, dass Sie den Wegfall der Eigenheimzulage zur Gegenfinanzierung der Steuerreform benutzen wollen. Nun brauche ich Ihnen doch sicher
nicht zu erklären, dass sich die Streichung der Eigenheimzulage auf der Einnahmenseite des Staates erst allmählich und später dann immer deutlicher bemerkbar macht.
Wir können doch wohl schlecht mit etwas mehr als 300 Millionen Euro im nächsten Jahr eine Steuerreform gegenfinanzieren. Wir können damit aber sehr wohl zu jährlich steigenden Investitionen in Forschung und Entwicklung beitragen.
Wenn wir die Eigenheimzulage jetzt abschaffen, kann der Bund stärker in Forschung, können die Länder stärker in bessere Schulen und die Kommunen stärker in Kinderbetreuung investieren.
Lassen Sie uns deshalb gemeinsam den Pakt für Forschung sowie den Wettbewerb der Spitzenuniversitäten umsetzen.
Fünftens: Wir werden die Strukturreformen fortentwickeln.
In der Agenda 2010 haben wir bereits umfassende Strukturreformen bei Rente und Gesundheit beschlossen.
Auch die Pflegeversicherung muss noch auf die Herausforderung der Demographie eingestellt werden. Die Pflegeversicherung in der Form, wie sie 1994 beschlossen wurde, ist nicht zukunftsfest.
Die Bundesregierung wird in diesem Jahr eine umfassende Pflegereform auf den Weg bringen, die aus folgenden Elementen bestehen wird:
– Einer sinnvollen Ausweitung der Leistungen, insbesondere bei Demenzkranken.
– Der notwendigen Angleichung von ambulanter und stationärer Pflege.
– Der langfristig wirksamen Stabilisierung der Beitragszahlungen, um den Faktor Arbeit zu entlasten.
Meine Damen und Herren,
mit der Agenda 2010 wollen wir Deutschlands Kräfte stärken. Parteiübergreifend tragen wir dafür Verantwortung, dass unser Land am Ende stärker, leistungsfähiger und solidarischer ist.
Das ist eine nationale Aufgabe. Aber wir übernehmen sie auch aus europäischem Verantwortungsgefühl heraus.
Viel zu wenig wird noch wahrgenommen, wie aufmerksam unsere europäischen Nachbarn den Aufbruch und die Veränderungen in Deutschland verfolgen. Denn bei der Agenda 2010 geht es um mehr als die künftige Rolle der stärksten europäischen Volkswirtschaft. Hier geht es auch um die künftige Gestalt Europas.
Europa steht für die Verbindung hoher Produktivität mit hohen sozialen Standards. Trotz der Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme gibt es ein klar erkennbares Europäisches Sozialmodell. Dieses Modell beruht auf der Verbindung von Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Solidarität.
In allen europäischen Staaten gewährt der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern Handlungsfreiheit und das Recht auf Privateigentum. Gleichzeitig verpflichtet er sich zu ihrem sozialen Schutz und ermöglicht Teilhabe.
Die Menschen in Europa wissen, dass sie bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter nicht ihrem Schicksal überlassen werden. Sie wissen auch, dass sich der Staat nicht nur um ihre materielle Absicherung sorgt, sondern auch für ihre gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft eintritt – unabhängig von ihren Voraussetzungen und Fähigkeiten.
Und dieser Grundsatz der Teilhabe macht auch vor den Betriebstoren nicht halt. Deshalb steht für uns die Mitbestimmung in Deutschland nicht zur Disposition. Sie sichert den Menschen in den Unternehmen Rechte und Mitsprachemöglichkeiten. Mitwirkung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer sind unabdingbare Voraussetzungen für eine betriebsnahe und beschäftigungssichernde Tarifpolitik.
Viele der Ansiedlungserfolge der letzten Jahre wären ohne das engagierte Mitwirken der Arbeitnehmervertreter nicht möglich gewesen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollten viel selbstbewusster und offensiver auf die positiven Aspekte der Mitbestimmung eingehen. Die Mitbestimmung hat Deutschland stark gemacht.
Gerade im Zeichen der Globalisierung ist Mitbestimmung ein Instrument, um Veränderung zu gestalten.
Wir haben uns in den vergangenen Jahren erfolgreich dafür eingesetzt, dass die Regelungen zur europäischen Aktiengesellschaft und die europäische Fusionsrichtlinie mitbestimmungsfreundlich ausgestaltet wurden.
In der Mitbestimmungsfrage müssen wir nun auch auf europäischer Ebene zu einer Neuorientierung kommen: statt defensiver Behauptung des Bestehenden offensive Mitgestaltung der Zukunft.
Meine Damen und Herren,
"Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat", so steht es im Artikel 20 unseres Grundgesetzes. Dieser demokratische und soziale Bundesstaat braucht zeitgemäße Regeln für sich selbst. Demokratie muss sich vernünftig organisieren.
Es geht darum, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern.
Diese Aufgabe ist auch Teil der Agenda 2010.
Die Kommission zur bundesstaatlichen Ordnung hat weitgehende Vorarbeit geleistet. Beim Abbau der Zustimmungsrechte, der klareren Zuordnung von Kompetenzen auf Bund und auf Länder, beim Steuertausch und bei der Steuerverwaltung, bei Innerer Sicherheit und der Vertretung nationaler Interessen in Europa bestand in der Kommission weitgehende Einigkeit.
Alle Beteiligten in Bund und Ländern müssen nun, das Konsensuale – und das ist nicht wenig – schnell gemeinsam beschließen und im weiteren Verfahren ehrlich prüfen, ob auch im Bereich Hochschule und Umweltrecht Einvernehmen gefunden werden kann.
Sollte dies nicht möglich sein, sind wir aber auch zu eigenen Initiativen bereit, die zunächst das Konsensuale zur Abstimmung stellen.
Meine Damen und Herren,
die Reformen der Agenda 2010 haben unser Land vorangebracht. Wir sind nun gerüstet für die Zukunft. Wir können Wachstum und Beschäftigung steigern, wenn wir entschlossen unsere Möglichkeiten nutzen. Was jetzt notwendig ist, habe ich dargelegt.
Wir haben Grund zum Selbstbewusstsein. Wir haben Grund, auf unsere eigene Kraft zu vertrauen.
Die Politik der Agenda 2010 fortzusetzen, empfinde ich als meine Verantwortung. Als meine Verantwortung für unser Land und für die Bürgerinnen und Bürger.
Ich danke Ihnen.